Die für den 30. Juni 2001 in Arnsberg geplante Demonstration von rechtsextremistischen Gruppierungen unter Leitung des mit ähnlichen Demonstrationen wiederholt in Erscheinung getretenen Christian Worch aus Hamburg darf nicht stattfinden. Dies hat der 5. Senat des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) durch Beschluss vom heutigen Tage entschieden und damit eine entsprechende Verbotsverfügung der Kreispolizeibehörde Meschede bestätigt. Ein gegen diese Verfügung gerichteter Eilantrag des Herrn Worch war bereits vor dem Verwaltungsgericht Arnsberg ohne Erfolg geblieben.

In seinem Beschluss setzt sich der 5. Senat des OVG NRW erneut kritisch mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Problem neonazistischer Demonstrationen auseinander:

"Der Auffassung der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, wonach grundsätzlich auch das öffentliche Auftreten von Neonazis und die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankengutes in öffentlichen Versammlungen und Aufzügen, soweit sie die Strafbarkeitsschwelle nicht überschreiten, unter den Schutz des Grundgesetzes fallen, vermag der Senat nicht zu folgen. Diese Auffassung wird dem Problem des Wiedererstarkens neonazistischer Umtriebe im wiedervereinten Deutschland nicht gerecht und weist überdies zahlreiche verfassungsrechtliche Ungereimtheiten und Widersprüche auf.

Der beschließende Senat hat mehrfach mit ausführlicher Begründung und unter Nennung der hierzu bereits vorliegenden einschlägigen Literatur aufgezeigt, dass die historisch bedingte Werteordnung des Grundgesetzes die demonstrative Äußerung nazistischer Meinungsinhalte auch unterhalb der Strafbarkeitsschwelle auf Grund verfassungsimmanenter Beschränkungen aus dem Kanon grundrechtlich geschützter Freiheitsrechte ausgrenzt. Dieser eingehenden Begründung begegnet die 1. Kammer lediglich mit dem Hinweis, derartige verfassungsimmanente Schranken gebe es nicht, eine entsprechende Auslegung sei offensichtlich fehlsam. Eine nähere Befassung mit den Argumenten des beschließenden Gerichts erfolgt nicht.

Dieses Defizit wird besonders deutlich in der Entscheidung der 1. Kammer vom 24. März 2001 - 1 BvQ 13/01 -, mit der sie unter Anwendung des üblichen Auflageninstrumentariums deutschen Neonazis einen grenzüberschreitenden Protestmarsch in die Niederlande unter Verwendung der Bundesflagge und der Fahnen der deutschen Bundesländer gestattete. Dabei hätte es sich - schon angesichts der historisch bedingten Konfliktlage im deutsch-niederländischen Grenzgebiet - angeboten, näher auf die Regelung des Art. 26 Abs. 1 Satz 1 GG (friedliches Zusammenleben der Völker) einzugehen. Denn in dieser Norm manifestiert sich bereits kraft ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Regelung eine der vom beschließenden Gericht fruchtbar gemachten verfassungsimmanenten Schranken demonstrativer Äußerungen nazistischer Meinungsinhalte jenseits der Strafgesetze.

Die von der 1. Kammer für die Beschränkung von Meinungsäußerungen für maßgeblich gehaltene Strafbarkeitsschwelle ist auch deshalb bedenklich, weil nicht die Strafgesetze abschließend über die verfassungsrechtlichen Grenzen zulässiger Meinungsäußerungen entscheiden können, sondern stattdessen die Abwägung kollidierender Verfassungsgüter die Grenzen der Strafbarkeit bestimmen.

Überdies berücksichtigt die 1. Kammer nicht hinreichend die eigene Senatsrechtsprechung, wonach das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG gerade auch durch Schranken begrenzt werden kann, "die sich aus der Verfassung selbst ergeben". Derartige Schranken der Meinungsfreiheit sind auch im Schrifttum anerkannt.

Angesichts dieser verfassungsrechtlichen Ausgangslage fehlt der Rechtsprechung der 1. Kammer eine hinreichende Begründung dafür, dass gerade bei der demonstrativen Äußerung nazistischer Meinungsinhalte die ansonsten grundsätzlich für beachtlich gehaltene Anwendung verfassungsimmanenter Schranken keine Rolle spielen und "offensichtlich fehlsam" sein soll.

Die Auffassung der 1. Kammer, wonach ein Zugriff auf neonazistische Meinungsinhalte unterhalb der Strafbarkeitsschwelle nicht in Betracht kommt, ist auch mit dem Beschluss vom 26. Januar 2001 - 1 BvQ 9/01 – zum Holocaust-Gedenktag nicht in Einklang zu bringen. In diesem Beschluss hat die 1. Kammer, die – faktisch auf ein Verbot hinauslaufende - Verschiebung der Durchführung eines Neonazi-Aufmarsches mit der Begründung gebilligt, die Durchführung eines Aufzuges durch Personen aus dem Umfeld der rechtsextremen "Kameradschaften" entfalte am Holocaust-Gedenktag eine spezifische Provokationswirkung und führe zu einer erheblichen Beeinträchtigung des sittlichen Empfindens der Bürgerinnen und Bürger. Dabei machte die 1. Kammer ihre Entscheidung ohne Rückgriff auf die ansonsten für maßgeblich erachtete Strafbarkeitsschwelle und ohne die ansonsten von den Fachgerichten verlangte besondere Gefahrenprognose an dem bloßen Auftreten der "Kameradschaften" in der Öffentlichkeit und einer darin liegenden unmittelbar einleuchtenden Provokationswirkung fest. Dies ist nur dann nachvollziehbar, wenn man auf die mit der physischen Gruppenpräsenz dokumentierte neonazistische Ideologie jener Kameradschaften abstellt und diese als versammlungsrechtlich abzuwehrende Gefahr anerkennt.

Unabhängig davon besteht ein nicht geklärter Widerspruch zwischen der Entscheidung der 1. Kammer zum Holocaust-Gedenktag und der Rechtsprechung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts zur Strafbarkeit provozierender Meinungsäußerungen. Nach dieser Rechtsprechung ist anerkannt, dass die provozierende Wahrnehmung einer Meinungsäußerung als Schranke der Grundrechtsausübung grundsätzlich ausscheidet. Der Schutz von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG bezieht sich dabei nicht nur auf den Inhalt der Äußerung, sondern auch auf ihre Form. Dass eine Aussage polemisch und verletzend formuliert ist, entzieht sie nicht schon dem Schutzbereich des Grundrechts ... Geschützt ist ferner die Wahl des Ortes und der Zeit einer Äußerung. Der sich Äußernde hat nicht nur das Recht, überhaupt eine Meinung kundzutun. Er darf dafür auch die Umstände wählen, von denen er sich die stärkste Wirkung seiner Meinungskundgabe verspricht.

Diese Grundsätze sind mit dem von der 1. Kammer eingeführten Merkmal der spezifischen Provokationswirkung nicht in Einklang zu bringen. Eine Kollision mit der zitierten Senatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich nur vermeiden, wenn man – entgegen der von der 1. Kammer an anderer Stelle betonten Meinungsneutralität des Versammlungsrechts - gezielt auf die neonazistische Ideologie zugreift und die demonstrative Propagierung dieser Ideologie als eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne des Versammlungsrechts bewertet. ..."

5 B 832/01