Der 8. Senat des Oberverwaltungsgerichts hat mit Urteil vom heutigen Tag auf die Berufung der Bundesrepublik Deutschland die Klage des Muhammed Metin Kaplan wegen Gewährung von Abschiebungsschutz abgewiesen.

M. Kaplan hatte u.a. geltend gemacht, dass ihm in der Türkei Folter drohe. Außerdem erwarte ihn in der Türkei ein Strafprozess u.a. wegen eines geplanten Anschlags mit einem mit Sprengstoff beladenen Kleinflugzeug auf das Atatürk-Mausoleum. Die Anklage sei auf Zeugenaussagen gestützt, die durch Folter erpresst seien. Darin liege ein schwerwiegender Verstoß gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens im Sinne des Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Das Verwaltungsgericht Köln hatte der Klage von M. Kaplan mit Urteil vom 27. August 2003 stattgegeben: Er dürfe nicht in die Türkei abgeschoben werden, weil ihn dort ein unfairer Strafprozess erwarte. Die hiergegen gerichtete Berufung der Bundesrepublik Deutschland hatte vor dem Oberverwaltungsgericht Erfolg.

Der Vorsitzende des 8. Senats führte in der mündlichen Urteilsbegründung u.a. aus:

Der uneingeschränkte Schutz vor Folter nach Art. 3 EMRK sei einer der grundlegendsten Werte demokratischer Gesellschaften. Er sei - auch gegen verschiedene gegenteilige politische Äußerungen - um jeden Preis zu verteidigen. Dem Kläger drohe jedoch in der Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, so dass ihm kein Abschiebungsschutz zustehe. Zwar bestehe trotz spürbarer Fortschritte der Türkei in Menschenrechtsfragen weiterhin ein erhebliches Risiko, im türkischen Polizeigewahrsam Opfer von Übergriffen zu werden. Vor allem in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams vor Einleitung eines Strafverfahrens bestehe die Gefahr für Inhaftierte, Opfer erheblicher körperlicher Misshandlungen bis hin zur Folter zu werden. Die Situation des Klägers unterscheide sich jedoch grundlegend von der Situation anderer türkischer Staatsangehöriger. Im Fall des Klägers habe die Türkei wiederholt, u.a. auf nochmalige Anfrage des Senats, verbindlich erklärt, dass der Kläger - entsprechend der ausdrücklichen Anordnung des zuständigen Gerichts - nicht in Polizeigewahrsam verbracht werde, sondern unmittelbar dem Richter vorgeführt werde. Für eine beachtliche Gefahr von Folter bei richterlichen Vernehmungen gebe es keine hinreichenden Anhaltspunkte. Die Gefahr von Folter sei im Fall des Klägers noch dadurch erheblich gemindert, dass der Kläger als besonders Prominenter unter genauer Beobachtung von Presse, Menschenrechtsorganisationen und EU-Kommission stehen werde. So sei auch im Fall des ähnlich prominenten PKK-Vorsitzenden Öcalan bislang keine menschenrechtswidrige Behandlung oder Folter festgestellt worden.

 

Der Kläger könne auch nicht deshalb Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG beanspruchen, weil er in der Türkei ein Strafverfahren befürchte, das nicht den Anforderungen an ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK entspreche. Zwar könne Abschiebungsschutz nach Art. 6 EMRK auch hinsichtlich der Türkei in Betracht kommen, obwohl es sich bei der Türkei um einem Vertragsstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention handele. Die Verantwortlichkeit der Bundesrepublik nach der EMRK hänge nicht davon ab, ob der Abschiebezielstaat ein Konventionsstaat oder ein Nicht-Konventionsstaat sei. Allerdings sei eine Abschiebung nur ausnahmsweise in krassen Fällen unzulässig, wenn nämlich die drohenden Beeinträchtigungen vergleichbar schwerwiegend seien wie menschenunwürdige Behandlung oder Folter.

Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen habe der Senat nicht abschließend entscheiden müssen, ob eine dem Kläger in der Türkei drohende Verurteilung zu einer langjährigen Haftstrafe sich auf Zeugenaussagen stützen werde, die durch Folter erlangt wurden. Auch wenn man dies unterstelle, drohten dem Kläger bei einer Gesamtbetrachtung nicht solch schwere Folgen, dass sie mit einer menschenunwürdigen Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK gleichzusetzen wären. Der Kläger könne nach Ausschöpfung des türkischen Rechtswegs eine Individualbeschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erheben und ein Wiederaufnahmeverfahren betreiben, falls der EGMR einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK feststellen sollte. Die Türkei habe im Januar 2003 ihre Strafprozessordnung entsprechend geändert. Es lägen keine hinreichenden Anhaltspunkte vor, dass die türkische Justiz ein Wiederaufnahmeverfahren nicht entsprechend den Vorgaben des EGMR durchführen würde. Der Kläger würde auch in angemessener Zeit ein Wiederaufnahmeverfahren betreiben können. Die Durchführung des Strafprozesses, des Beschwerdeverfahrens beim EGMR und des Wiederaufnahmeverfahrens würden nach den bisherigen Erfahrungen insgesamt voraussichtlich nicht mehr als etwa 4 bis 5 Jahren beanspruchen.

Die damit mögliche Haftdauer von etwa 5 Jahren bis zum Abschluss eines Wiederaufnahmeverfahrens stelle insbesondere deshalb keinen - einer unmenschlichen Behandlung gleichzuachtenden - schweren Eingriff für den Kläger dar, weil dieser bereits aus anderen Gründen mit einer Haftstrafe von etwa 5 Jahren rechnen müsste. Unabhängig von dem mit Foltergeständnissen "belasteten" Tatkomplex (geplante Anschläge auf das Atatürk-Mausoleum und die Fatih-Moschee in Istanbul) bestünden weitere Tatvorwürfe gegen den Kläger, u.a. wegen des unstreitigen Aufrufs zum Heiligen Krieg in der historischen "Fetwa" vom 3. Mai 1998 und begleitenden Schriften. Nach dem eingeholten Gutachten des Max-Planck-Instituts für ausländisches Strafrecht habe der Kläger wegen dieser anderen Tatkomplexe mit einer Mindestfreiheitsstrafe von 5 Jahren in der Türkei zu rechnen. Eine Haftzeit von etwa 5 Jahren müsse der Kläger daher auch unabhängig von den fraglichen Geständnissen und dem zugehörigen Tatvorwurf hinnehmen. Insoweit könne deshalb kein schwerer Eingriff wegen eines möglicherweise unfairen Verfahrens vorliegen, der einen Abschiebungsschutz rechtfertigen könnte.

Das Oberverwaltungsgericht hat gegen das Urteil die Revision zum Bundesverwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.

 

Az.: 8 A 3852/03.A