Der Essener Polizeipräsident hat die für den 1. Mai in Essen geplante NPD-Versammlung zu Recht verboten. Dies hat der 5. Senat des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) durch Beschluss vom heutigen Tage entschieden und dabei folgende Leitsätze aufgestellt:

"1. Zu den Anschauungen der NPD gehören Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit.

2. Derartige Anschauungen sind mit grundgesetzlichen Wertvorstellungen schlechterdings unvereinbar. Sie lassen sich nicht als "politisch unerwünscht" oder "missliebig" bagatellisieren und wie jede andere Meinungsäußerung als Ausübung eines für die Demokratie konstituierenden Freiheitsrechts einstufen.

3. Der Ausschluss derartiger Anschauungen aus dem demokratischen Willensbildungsprozess ist ein aus der historisch bedingten Werteordnung des Grundgesetzes ableitbarer Verfassungsbelang."

Zur Begründung hat der 5. Senat u.a. ausgeführt:

"Der Antragsgegner hat die von der Antragstellerin für den 1. Mai 2001 angemeldete Versammlung wegen unmittelbarer Gefährdung der öffentlichen Ordnung gemäß § 15 Abs. 1 des Versammlungsgesetzes (VersammlG) zu Recht verboten.

Nach der Rechtsprechung des Senats lässt sich eine rechtsextremistische Ideologie wie der Nationalsozialismus unter dem Grundgesetz nicht - auch nicht mit den Mitteln des Demonstrationsrechts - legitimieren; bei der Auslegung des Grundrechts der Demonstrationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1, 8 Abs. 1 GG) ist dieser verfassungsimmanenten Beschränkung auch unterhalb der Schwelle strafrechtlicher und verfassungsgerichtlicher Verbots- und Verwirkungsentscheidungen Rechnung zu tragen, so dass Versammlungen, die durch ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus geprägt sind, wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung gemäß § 15 Abs. 1 VersammlG verboten werden können.

Diese Rechtsprechung hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts ... im Wesentlichen mit der Begründung verworfen, die vom beschließenden Senat bejahten verfassungsimmanenten Schranken gebe es nicht. Eine Grenze der Meinungsäußerung bildeten gemäß Art. 5 Abs. 2 GG die Strafgesetze, die zum Rechtsgüterschutz ausnahmsweise bestimmte geäußerte Inhalte untersagten. Daneben kämen zusätzliche verfassungsimmanente Grenzen der Inhalte von Meinungsäußerungen entgegen der Auffassung des beschließenden Senats nicht zum Tragen. Eine Äußerung aber, die nach Art. 5 Abs. 2 GG nicht unterbunden werden dürfe, könne auch nicht Anlass für versammlungsbeschränkende Maßnahmen nach Art. 8 Abs. 2 GG sein.

Nach dieser Bewertung des Bundesverfassungsgerichts fallen grundsätzlich auch das öffentliche Auftreten neonazistischer Gruppierungen und die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankengutes in öffentlichen Versammlungen und Aufzügen, soweit sie die Strafbarkeitsschwelle nicht überschreiten, unter den Schutz des Grundgesetzes.

Der beschließende Senat teilt diese Auffassung nicht und hält die mit ihr verbundenen Konsequenzen für problematisch. Vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte werden durch das öffentliche Auftreten von neonazistischen Gruppierungen und das Verbreiten entsprechenden Gedankenguts grundlegende soziale und ethische Anschauungen einer Vielzahl von Menschen - zumal der in Deutschland lebenden ausländischen und jüdischen Mitbürger - in erheblicher Weise verletzt. Dieser Befund gilt nicht nur an Tagen mit gewichtiger Symbolkraft und "spezifischer Provokationswirkung" wie dem Holocaust-Gedenktag, sondern an jedem Tag des Jahres. Dies ist ein wesentlicher Aspekt der Verfassungswirklichkeit im wiedervereinten Deutschland, den es bei der Auslegung und Anwendung der hier in Rede stehenden Normen zu berücksichtigen gilt. Der Hinweis der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts ... auf die vom Grundgesetz getroffenen Vorkehrungen der Gefahrenabwehr als Ausdruck einer wehrhaften und streitbaren Demokratie trägt dem nicht hinreichend Rechnung. Die in Art. 9 Abs. 2, Art. 18, Art. 21 Abs. 2 GG enthaltenen Regelungen dienen zwar auch dem Ziel, ein Wiederaufleben des Nationalsozialismus zu verhindern. Angesichts der nahezu unüberwindbaren Hürden, die das Bundesverfassungsgericht insoweit aufgestellt hat, können jene Vorkehrungen in der Verfassungswirklichkeit jedoch nur in den seltensten Fällen ihre Schutzwirkung entfalten. Sie erweisen sich jedenfalls als ungeeignet, die mit dem Auftreten von neonazistischen Gruppierungen verbundenen - hier in Rede stehenden - Verletzungen grundlegender sozialer und ethischer Anschauungen einer Vielzahl von Menschen zu verhindern.

Der beschließende Senat verkennt nicht, dass durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) auch und gerade die "politisch missliebige Meinung" geschützt wird. Entgegen der Auffassung der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts geht es bei dem Gedankengut von Neonazis - hier: der NPD - jedoch nicht um eine lediglich "politisch missliebige Meinung", sondern um Anschauungen, denen das Grundgesetz selbst eine klare Absage erteilt hat. Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit - und dafür steht die NPD - sind nicht irgendwelche unliebsamen, politisch unerwünschten Anschauungen, sondern solche, die mit grundgesetzlichen Wertvorstellungen schlechterdings unvereinbar sind. Der Ausschluss gerade dieses Gedankenguts aus dem demokratischen Willensbildungsprozess ist ein aus der historisch bedingten Werteordnung des Grundgesetzes ableitbarer Verfassungsbelang, der geeignet ist, die Freiheit der Meinungsäußerung, bezogen und beschränkt auf dieses Gedankengut, auch jenseits verfassungsrechtlicher Verbots- und Verwirkungsentscheidungen nach Art. 21 Abs. 2, 18 Satz 2 GG inhaltlich zu begrenzen.

Dieses historische Gedächtnis der Verfassung, das in der ausdrücklichen Erwähnung der zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus erlassenen Rechtsvorschriften in Art. 139 GG seinen weiteren verfassungsrechtlichen Niederschlag gefunden hat, wird übergangen, wenn man das öffentliche Eintreten für nationalsozialistisches Gedankengut als politisch unerwünscht und missliebig bagatellisiert und wie jede andere Meinungsäußerung als Ausübung eines für die Demokratie konstituierenden Freiheitsrechts einstuft.

Der weiteren Frage, ob es sich beim 1. Mai 2001 um ein Datum mit gewichtiger Symbolkraft und einer "spezifischen Provokationswirkung" handelt, kann danach dahingestellt bleiben. Die grundgesetzliche Werteordnung gilt nicht nur an Gedenktagen mit gewichtiger Symbolkraft oder "spezifischer Provokationswirkung", sondern an jedem Tag des Jahres. überdies ist der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts in diesem Zusammenhang entgegenzuhalten, dass sie in Widerspruch zu ihrer sonstigen Rechtsprechung an derartigen Symboltagen der Sache nach auf eine konkrete Gefahrenprognose verzichtet.

Hinzu kommt, dass der in einer späteren verfassungsgerichtlichen Entscheidung geprägte Begriff der "spezifischen Provokationswirkung" einen aus der Werteordnung des Grundgesetzes ableitbaren verfassungsrechtlichen Bezug nicht erkennen lässt.

Nach dem übereinstimmenden Votum der Verfassungsorgane Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung, deren Einschätzung der beschließende Senat folgt, nimmt die Antragstellerin eine aktiv-kämpferische, aggressive Grundhaltung ein, mit der sie die freiheitlich demokratische Grundordnung des Grundgesetzes überwinden will. Sie ist mitverantwortlich für ein geistiges Klima, das den Boden für gewaltsame Übergriffe von Rechtsextremisten auf Ausländer sowie andere Minderheiten in Deutschland schafft. Mit diesen Zielen wird die Partei in der Öffentlichkeit ohne Weiteres identifiziert. Dies wäre auch bei der für den 1. Mai geplanten Veranstaltung der Fall."

5 B 585/01