Dr. Michael Bertrams, Präsident des Verfassungsgerichtshofs und des Oberverwaltungsgerichts für das Land NRW, nimmt Stellung zu einem Beitrag von Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann-Riem in der Frankfurter Rundschau v. 11.7.2002, S. 14.

Die Ausführungen von Hoffmann-Riem können nicht unwidersprochen bleiben. Sie geben den Stand der Diskussion zum öffentlichen Auftreten von Neonazis unzutreffend wieder und sind in zentralen rechtlichen Punkten unvollständig; stellenweise sind sie unseriös; sie setzen sich jedenfalls nicht ernsthaft mit den in Rechtsprechung und Literatur entwickelten Gegenargumenten auseinander.

Die aktuelle Kontroverse in der Rechtsprechung - oder: eine unzutreffende Tatsachenbehauptung von Hoffmann-Riem

Hoffmann-Riem behauptet, infolge einer "Intervention" des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hätten die Behörden und Gerichte ihre Praxis, Neonazi - Demonstrationen zu verbieten, umgestellt; sie orientierten sich nunmehr an den vom BVerfG konkretisierten Grundsätzen, denen zufolge auch Neonazis grundsätzlich das Recht zustehe, öffentlich zu demonstrieren. Diese Behauptung trifft so nicht zu. Richtig ist vielmehr, dass insbesondere das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), das größte OVG der Bundesrepublik Deutschland, den von Hoffmann-Riem angesprochenen Grundsätzen des BVerfG nachdrücklich entgegentritt. Das OVG NRW ist daran nicht gehindert, weil es sich – entgegen der von Hoffmann-Riem suggerierten Annahme – nicht um allgemein verbindliche Grundsätze des BVerfG handelt, sondern lediglich um die Rechtsprechung der - mit Hoffmann-Riem und zwei weiteren Richtern besetzten - 1. Kammer des 1. Senats des BVerfG (im Folgenden: 1. Kammer). Diese Rechtsprechung entfaltet gegenüber Behörden und Gerichten - im Unterschied zu Entscheidungen des achtköpfigen Senats - über den Einzelfall hinaus keine Bindungswirkung.

Mit seiner kontroversen Rechtsauffassung steht das OVG NRW im Übrigen nicht allein. Sie wird vielmehr von namhaften Verfassungsrechtlern geteilt. Selbst zurückhaltende Stimmen finden positive Worte für den Standpunkt des OVG NRW. So hat der ehemalige Präsident des BVerfG Ernst Benda der 1. Kammer ins Stammbuch geschrieben, die Argumente des OVG NRW seien "eindrucksvoll"; zugleich hat Benda kritisiert, dass trotz der erheblichen Bedeutung des Themas bislang lediglich die Kammer und nicht der Senat entschieden hat.

Politisch motivierte Demonstrationsverbote? - oder: unseriöse Spekulationen von Hoffmann-Riem

Den Boden der Seriosität verlässt Hoffmann-Riem, wenn er den "Rechtsanwendern in Behörden und Gerichten", die nicht seiner Meinung sind, unterstellt, sie fühlten sich zu ihrer Haltung offenbar durch Politiker, Medien und andere Teilnehmer an der öffentlichen Diskussion ermuntert; "vermutlich" seien sie "fest davon überzeugt, sich für eine gute Sache einzusetzen". Mit derart unsachlichen Spekulationen erweckt Hoffmann-Riem bei den Lesern seines Beitrags den Eindruck, als handele es sich bei den genannten "Rechtsanwendern" zwar um gutmeinende Menschen, letztlich jedoch um politisch eingefärbte, von gesellschaftlichen Kräften fehlgeleitete Ignoranten, die nicht wüssten, was in der Verfassung steht. Derartige Argumentationsmuster disqualifizieren sich selbst.

Neonazis – eine missliebige politische Minderheit? - oder: was Hoffmann-Riem nicht erörtert

Hoffmann-Riem reduziert das Neonazi-Problem auf die Frage nach dem Umgang mit politisch missliebigen Minderheiten. Er verschweigt jedoch, dass es sich bei den Anschauungen von Neonazis nicht lediglich um politisch missliebige Meinungen handelt, sondern um Anschauungen, denen das Grundgesetz eine entschiedene Absage erteilt hat. Die daran anknüpfenden Ausführungen in der verfassungsrechtlichen Literatur und in der Rechtsprechung des OVG NRW erwähnt Hoffmann-Riem mit keinem Wort. Ich stelle sie deshalb im Folgenden kurz vor.

Die Rechtsprechung des OVG NRW – oder: das historische Gedächtnis des Grundgesetzes

Nach der Rechtsprechung des OVG NRW, an der der Verfasser dieser Zeilen als Vorsitzender des für das Versammlungsrecht zuständigen 5. Senats beteiligt ist, stellt sich die Sach- und Rechtslage wie folgt dar:

Mit Blick auf das öffentliche Auftreten von Neonazis ist bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Normen des Grundgesetzes zu berücksichtigen, dass das Grundgesetz in weiten Teilen - insbesondere in seiner Präambel, in der Konzeption des Grundrechtsteils und in der Ausformung des Gedankens der wehrhaften Demokratie - als eine Antwort auf die Beseitigung der Weimarer Demokratie durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft zu verstehen ist. Das Grundgesetz ist m.a.W. der Gegenentwurf zur Barbarei der Nazis. Von zentraler Bedeutung ist dabei neben der grundgesetzlich konstituierten Friedenspflicht (Art. 1 Abs. 2, 24 Abs. 2 und 26 Abs. 1 GG) der die gesamte Rechtsordnung prägende Aspekt der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Angesichts dieser Verfassungswerte gewinnt die Tatsache, dass vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte durch das öffentliche Auftreten von Neonazis und das Verbreiten entsprechenden Gedankenguts grundlegende soziale und ethische Anschauungen einer Vielzahl von Menschen - zumal der in Deutschland lebenden ausländischen und jüdischen Mitbürger - in erheblicher Weise verletzt werden, besonderes Gewicht.

Soweit es beim Problem der Demonstrationsfreiheit für Neonazis um das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) geht, schützt dieses zwar auch und gerade die "politisch missliebige Meinung". Bei dem Gedankengut von Neonazis geht es aber nicht um irgendeine "politisch missliebige Meinung", sondern um schauungen, denen das Grundgesetz mit seinem historischen Gedächtnis eine klare Absage erteilt hat. Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit als Kernpunkte neonazistischer Ideologie sind nicht irgendwelche unliebsamen, politisch unerwünschten Anschauungen, sondern solche, die mit grundgesetzlichen Wertvorstellungen schlechterdings unvereinbar sind. Der Ausschluss gerade dieses Gedankenguts aus dem demokratischen Willensbildungsprozess ist ein aus der historisch bedingten Werteordnung des Grundgesetzes ableitbarer Verfassungsbelang, der es rechtfertigt, die Freiheit der Meinungsäußerung, bezogen und beschränkt auf dieses Gedankengut, inhaltlich zu begrenzen. Das historische Gedächtnis der Verfassung wird m.a.W. übergangen, wenn man das öffentliche Eintreten für nationalsozialistisches Gedankengut als politisch unerwünscht und missliebig bagatellisiert und wie jede andere Meinungsäußerung als Ausübung eines für die Demokratie konstituierenden Freiheitsrechts einstuft.

Vor diesem Hintergrund lässt sich nach der Rechtsprechung des OVG NRW eine rechtsextremistische Ideologie wie der Nationalsozialismus nicht - auch nicht mit den Mitteln des Demonstrationsrechts - legitimieren; bei der Auslegung des Grundrechts der Demonstrationsfreiheit (Art. 5 Abs. 1, 8 Abs. 1 GG) ist deshalb dieser verfassungsimmanenten Beschränkung auch unterhalb der Schwelle strafrechtlicher und verfassungsgerichtlicher Verbots- und Verwirkungsentscheidungen Rechnung zu tragen, so dass Versammlungen, die durch ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus geprägt sind, wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung gemäß § 15 Abs. 1 des Versammlungsgesetzes (VersG) verboten werden können.

Diese Rechtsprechung des OVG NRW hat die 1. Kammer als "offensichtlich fehlerhaft" verworfen und entsprechende Entscheidungen aufgehoben, ohne auf die Argumentation des OVG NRW näher einzugehen. Dieses Versäumnis wiegt um so schwerer, als das OVG NRW der 1. Kammer zahlreiche Widersprüche und Ungereimtheiten ihrer Rechtsprechung vorgehalten hat.

Demonstrationsverbot am Holocaust-Gedenktag – oder: Ungereimtheiten in der Rechtsprechung der 1. Kammer

Eine besonders gravierende Ungereimtheit liegt darin, dass die 1. Kammer ihren eigenen Grundsätzen zuwider das öffentliche Auftreten von Neonazis am Holocaust-Gedenktag unterbindet. Dabei begnügt sich die 1. Kammer mit dem lapidaren Hinweis, es leuchte unmittelbar ein und sei auch verfassungsrechtlich tragfähig, wenn die Versammlungsbehörde der Durchführung eines Aufzugs durch Personen aus dem Umfeld der rechtsextremen Kameradschaften an diesem Gedenktag eine Provokationswirkung zumesse und dies als Gefahr einer erheblichen Beeinträchtigung des sittlichen Empfindens der Bürgerinnen und Bürger bewerte. Das heißt: die 1. Kammer nimmt die rechtsextremistischen Kameradschaften als Neonazis wahr, stellt im Widerspruch zu ihrer sonstigen Rechtsprechung auf deren demonstrativ propagierte neonazistische Ideologie ab und bewertet diese Ideologie als eine versammlungsrechtlich abzuwehrende Gefahr für die öffentliche Ordnung. Damit gibt die 1. Kammer die von Behörden und Gerichten geforderte "Meinungsneutralität" des Versammlungsrechts kurzerhand auf.

Angesichts dieses Befundes drängt sich im Übrigen die Frage auf, warum der zielgerichtete Zugriff auf die neonazistische Ideologie nur am Holocaust-Gedenktag gelten soll. Warum besteht nur an diesem Tag die unmittelbar einleuchtende Gefahr einer erheblichen Beeinträchtigung des sittlichen Empfindens der Bürgerinnen und Bürger? Inwiefern lässt sich nicht auch außerhalb dieses Gedenktages eine verfassungsrechtlich beachtliche Kollision mit der öffentlichen Ordnung bejahen? Ist es - anders gefragt – vertretbar, am Holocaust-Gedenktag die öffentliche Präsenz von Neonazis als eine für die Empfindungen der Bürgerinnen und Bürger unzumutbare Provokation zu bewerten, an den verbleibenden Tagen des Jahres dem Auftreten eben jener Neonazis und den damit verbundenen Verletzungen der sozialen und ethischen Anschauungen hingegen die rechtliche Relevanz abzusprechen? - Dies ist weder nachvollziehbar noch vertretbar. Es handelt sich um eine willkürliche Setzung ohne verfassungsrechtliche Fundierung. Das auf einen singulären – im öffentlichen Bewusstsein kaum verankerten - Gedenktag bezogene Merkmal der "spezifischen Provokationswirkung" lässt überdies unberücksichtigt, dass das öffentliche Auftreten von Neonazis zumindest für die in Deutschland lebenden ausländischen und jüdischen Mitbürger an jedem Tag des Jahres eine "spezifische" Provokationswirkung entfaltet, wird doch gerade diesen Mitbürgern – auch ohne Worte - vor Augen geführt, in Deutschland nicht willkommen zu sein.

Der von Hoffmann-Riem vertretenen Rechtsprechung der 1. Kammer mangelt es an einer zeitgerechten Konkretisierung des Begriffs der "wehrhaften Demokratie". Bei der Erörterung dieses Begriffs bleiben jedenfalls wichtige Aspekte der Verfassungswirklichkeit im wiedervereinten Deutschland unberücksichtigt. Zu dieser Wirklichkeit gehört ein – mit Blick auf den Holocaust nicht für möglich gehaltenes - Wiederaufleben rechtsextremistischer Bestrebungen und Tendenzen in den alten und neuen Bundesländern. Die u.a. in Art. 21 Abs. 2 GG (Verbot verfassungswidriger Parteien) getroffenen Vorkehrungen der Gefahrenabwehr sind zwar – wie Hoffmann-Riem zu Recht betont - Ausdruck einer wehrhaften und streitbaren Demokratie. Diese Vorkehrungen sind jedoch weder geeignet noch dazu bestimmt, das öffentliche Auftreten von Neonazis und die damit verbundenen Verletzungen grundlegender sozialer und ethischer Anschauungen einer Vielzahl von Menschen zu verhindern. Insoweit einschlägig ist vielmehr die spezielle Regelung des Art. 8 Abs. 2 GG, in welcher der Verfassungsgeber den einfachen Gesetzgeber ausdrücklich ermächtigt hat, die Versammlungsfreiheit zu beschränken. Dies ist in § 15 VersG geschehen. Die dort für den Fall einer unmittelbaren Gefährdung der öffentliche Ordnung getroffene Verbotsregelung ist ebenfalls Ausdruck einer wehrhaften Demokratie. Diesen Aspekt gilt es in einer Weise zu aktualisieren, die der Verfassungswirklichkeit Rechnung trägt. Als dem maßgeblichen Hüter der Verfassung obliegt dem BVerfG insoweit eine besondere Verantwortung.

Hoffmann-Riem ignoriert letztlich die Renaissance des Rechtsextremismus im wiedervereinten Deutschland. Dieses Phänomen wird jedenfalls verharmlost und bagatellisiert, wenn er Neonazis unkommentiert dem Kreis beliebiger "Minderheiten" zuordnet und deren Programmatik undifferenziert in eine Reihe stellt mit anderen am Prozess der demokratischen Willensbildung teilnehmenden politisch unerwünschten, missliebigen Meinungen.

Demonstrationsfreiheit – die Luftröhre der Demokratie

Für den demokratischen Willensbildungsprozess sind die vom Grundgesetz geächteten Anschauungen von Neonazis ohne Bedeutung. Speziell diesen Anschauungen hat das Grundgesetz mit seinem historischen Gedächtnis eine klare Absage erteilt. Mit anderen Worten: Die Freiheit des Andersdenkenden ist ein hohes Gut. Diese Freiheit muss in der wehrhaften Demokratie des Grundgesetzes aber dort ihre Grenze finden, wo der Versuch unternommen wird, das menschenverachtende Gedankengut des Dritten Reiches wiederzubeleben. Handelt es sich bei der Demonstrationsfreiheit um die "Luftröhre der Demokratie", dann gehen – um im Bild zu bleiben – Neonazis der Demokratie an die Gurgel. Eine wehrhafte Demokratie muss dem entgegentreten und dafür sorgen, dass ihr nicht irgendwann von geschichtsblinden Barbaren die Luft zum Atmen genommen wird.